
staat Hessen seit 1919 um die Universität, die einen Zustrom von Studierenden
auch des kleineren Bürgertums mit damals hoffnungsarmer Zukunft erlebte (bis
fast 2500). Die politisch-ökonomische Krise der Republik erfaßtezuerst und am
heftigsten die sozial Schwächsten, in Gießen die Studierenden, und radikali-
sierte sie (seit 1931 nationalsozialistische Mehrheit in der Studentenvertre-
tung). Die meisten Professoren blickten politisch nach rückwärts, in die Welt vor
1914,
oder enthielten sich.
Das Geschehen und Verhalten an der Ludoviciana während des Nationalsozia-
lismus kann man im allgemeinen als durchschnittlich- das heißt vielfach als
bedrückend und beschämend - ansehen. Zwölf Prozent der planmäßigen Pro-
fessoren wurden aus dem Dienst entfernt, zumeist in der Philosophischen
Fakultät. Entsprechendes geschah gegenüber den anderen Mitgliedergruppen
der Universität. Es gelang nicht, eine neue Parteielite systematisch einzu-
schleusen oder aufsteigen zu lassen. Bei den Verbliebenen und Neueingetrete-
nen mischte sich daher wie üblich partielle Resistenz mit partieller Teilhabe. So
wurden in Kliniken Zwangsbehandlungen, zumal Sterilisationen, durchgeführt
und wurden einige „Mode"fächer propagiert. Dennoch blieb das Mißtrauen der
Machthaber bestehen, wie es das neue Hochschulrecht charakteristisch a/jointfilesconvert/425402/bge-
stuft zum Ausdruck brachte: Der Einfluß der Ordinarien wurde gemindert,
derjenige der Dozenten und Studenten gemehrt. Die Existenzfrage der Univer-
sität freilich solidarisierte Überzeugte und Ablehnende bald. Denn der
erschreckende Schwund der Studentenzahlen und extreme Umschichtungen
(1939 fast 60 % Mediziner) ließen das Schlimmste ahnen, bevor noch die Bom-
benangriffe vom 6. und 11. Dezember 1944 Innenstadt und Universität fast
auslöschten.
Im Jahre 1945/46 führte die Ludoviciana in einem zerstörten und verhungerten
Land ein gespenstisches Dasein, nicht tot und nicht lebendig. Konkurrenzfähig
im größeren Hessen schien man aus der Sicht des neuen Landes nur in den
anderwärts nicht vertretenen Disziplinen. So entstand 1946 die Justus-Liebig-
Hochschule, in der Landwirtschaft, Veterinärmedizin samt den notwendigsten
Naturwissenschaften sowie seit 1950 die Humanmedizin zusammengefaßt wur-
den. Erst im Jahr 1957 wurde der Universitätsstatus wiederhergestellt. Die
Konjunkturwende von 1973/74 beendete eine Wachstumsphase ohnegleichen,
die die Professorenzahl verzehnfachte und die Studentenzahl verzwanzig-
fachte. Erstmals wurde die Universität Gießen von ihrem Platz in einem, nun
dem bundesdeutschen Hochschulsystem und'nicht von den Möglichkeiten des
partikularen Trägers her definiert. So wuchs sie zur weitgefächerten zweitgröß-
ten hessischen Universität mit fast
19000
Studierenden
(1988/89)
heran. Sozial
gesehen handelte es sich erstmals um eine Universität für alle Schichten. Von
1970 an verwandelte die Hochschulgesetzgebung auch sie in eine Gruppenuni-
versität, deren Binnenstrukturen nach und nach einen Ausgleich zwischen
„progressiver” Landespolitik und den Normen des Grundgesetzes anstrebten.
Nicht immer ist bei alledem die Hauptaufgabe und das Hauptkennzeichen auch
der „nachklassischen” Universität in aller Welt, die Forschung, genügend hoch
bewertet worden, die allein die Grundlage für Ausbildung und Dienstleistungen
bieten kann. Immer stärker überformen auch überregionale Kräfte alte und
neue Universitäten. Ihnen ist daher als zweite Aufgabe gestellt, das individuelle
Gesicht zu bewahren, damit sie unter weiterhin rasch sich wandelnden Rah-
menbedingungen unverwechselbar und konkurrenzfähig bleiben. *
Peter Moraw
* Die „Kleine Geschichte der Universität Gießen” (2. Aufl. 1989) des Vfs. bietet
ausführlichere Information.
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